Die eigene Art ist des Menschen Dämon, soll Heraklit geäußert haben. Den ‚dunklen’ Philosophen aus Ephesos, dem wir frühe Erkenntnisse über uns selbst verdanken, schildert Otto A. Böhmer in einer windigen Situation.
holzwege
Etwas ganz Unschätzbares
Der Philosoph Heraklit
Von Otto A. Böhmer
Der Philosoph Heraklit, ein wenig jünger als sein Kollege Parmenides, dem er in manchem ähnelte, mochte die Menschen nicht sonderlich, wofür er gute und hochfahrende Gründe ins Feld führen konnte. Immer nämlich waren sie ihm dumm dahergekommen, sie taumelten festen Schrittes in einem beizeiten bloßgelegten Leben umher, suchten nach Wahrheiten, die ihnen von anderen aufgeschwatzt wurden; sie lärmten in redlicher Stille, zitterten vor Angst, wenn es laut wurde unter der Sonne und der Himmel zu dröhnen begann. „Zu den Götterbildern beten die Menschen“, hatte Heraklit aufgeschrieben, „wie wenn einer mit Häusern redete; sie kennen Götter und Heroen nicht nach ihrem eigentlichen Sein“ – und als es ihm eines schlechten Tages zuviel wurde, machte er sich auf ins Gebirge. Anfangs nahm er die Anstiege schnell, noch war er bei Laune und Luft und fühlte sich wie in Härte befreit, aber dann wurde er langsamer, und ein heimtückischer Schmerz drückte ihm auf Herzblatt und Kopf. Weit unter ihm lag die Stadt Ephesos, in der er lebte, eine Stadt mit besonders dümmlichen Menschen, wie er fand – und die Einsamkeit, in der Heraklit sich befand, wollte ihm nun mit einem Mal nicht mehr gefallen. Ein böiger Wind pfiff über die Höhen und ließ den Philosophen frösteln. Er fand eine Höhle, die ihm gerade recht kam für eine erste unabdingbare Rast. Unweit des Eingangs, aber geschützt vor dem unfreundlichen Wind, hockte er sich in eine Felsnische und wartete auf bessere Gedanken. Die aber wollten sich nicht einstellen, im Gegenteil: Der Wind wurde noch stärker; er schien sogar um Ecken wehen zu können und blies dem Philosophen, der an ein Feuer dachte, das zerstörerisch ist, vorbehaltlos wärmt, hinterrücks unters Gewand. Heraklit war nun gänzlich verärgert; er erhob sich, wobei er noch immer an ein gutes und wärmendes Feuer dachte, nicht aber an die steinerne Höhlenwand über ihm, mit der sein Schädel nun aneinandergeriet und schmerzhafte Bekanntschaft machte, so dass er für einen langanhaltenden Moment der Wahrheit keine Gedanken mehr ins Feuer werfen konnte, sondern nur noch eine Vielzahl von farbenprächtigen Sternen sah.
Als Heraklit endgültig das Freie erreicht hatte, atmete er auf; der Kopf brummte ihm, aber er freute sich auf die unnachahmlich dummen Menschen im Tal und in der Stadt. Es störte ihn auch nicht weiter, dass er beim Abstieg in den trockenen Dungkegel einer Bergziege trat, der, wie sich herausstellte, so trocken nicht war und aufquoll, um Sandale und Fuß, die ihn getreten hatten, mit grün-weichen Duftschnüren behängen zu können.
Auch der Wind hatte sich eines Besseren besonnen; er schob den Philosophen die Hänge hinunter, und Heraklit dachte: Es täuschen sich die Menschen – fast immer – in bezug auf die Einsicht in das Offenbare, aber, fügte er unaufgefordert hinzu, es gleicht schierer Notwendigkeit, dass die Menschen beieinander hausen wie verantwortungslos-gesellige Tiere. Das muss wohl so sein und verdient den Beifall müde gewordener Götter. Am gleichen Feuer wärmen wir uns, wenn es denn da ist, und es überzieht das Seiende mit wohlbedachter Zerstörung. Einer wird des anderen Feind, weil keiner besser sein kann als die Leiberflut, die mit ihm ist.
Am nächsten Tag ging es dem Philosophen besser; sein Schädel knarzte nicht mehr, und die leichten Kopfschmerzen, die er hatte, waren ihm fast schon zur lieben Gewohnheit geworden. Nach dem kargen Frühstück setzte er sich ein wenig in den Schatten; er überlegte, ob er sich ein zweites Schläfchen gönnen sollte, als er auf einmal gestört wurde: Koskotas, ein Bekannter, der ihm zuweilen zu Diensten war, erschien und teilte ihm mit, dass der andere Heraklit, ein Namensvetter des Philosophen, den dieser immer schon einmal kennenlernen wollte, in der Stadt sei und sich anschicke, einen seiner wahrhaft seltsamen Auftritte in Szene zu setzen. „Das muss ich sehen“, sagte Heraklit. „Ich komme mit dir.“ Der andere Heraklit war ein Verrückter, wie man sagte; ein ernst zu nehmender Kauz und nahezu gewalttätiger Sonderling, der früher einmal, wie der andere Parmenides, als Spaßmacher durchs Land gezogen war, ehe ihn dann eine endgültige Traurigkeit überkam, die es mit sich brachte, dass ihm die üblichen Späße vergingen. Gleichwohl pflegte dieser aus der Bahn geratene Heraklit immer noch sein ihm Gewohnheit gewordenes, ruheloses Leben von früher; er kam in die Städte und Dörfer und trat dort auf wie ein gescheiterter Spaßmacher, der sich vergeblich bemühte, im Hoffeld metaphysischer Ernsthaftigkeit und gedanklicher Strenge sesshaft zu werden. Mit finsterer Miene ging er auf und ab, und alsbald bildete sich um ihn herum eine kleinere Menschenmenge, die ihn in die Mitte nahm, so dass er sein Hin- und Hergehen zum Kreisgang machen musste, bei dem man ihn mit allerlei Zurufen versorgte, die er aber gänzlich zu ignorieren schien, bis er dann das tat, was man von ihm kannte und immer erwartete: Urplötzlich stieß er einen dumpfen Schrei aus, ein Mittelding zwischen einer laut herausgegurgelten, unflätigen Drohung und einem aus dem zweiten Gedankenschlund aufschießenden Rülpser – und die Leute, obwohl sie wussten, was sie erwartete, erschraken, zuckten zusammen und machten sich Mut im hilflos-verlegenen Lachen.
Als Heraklit, der Philosoph, dieses seltsame Schauspiel, von dem er gehört hatte, endlich einmal auch selbst zu Gesicht bekam, wusste er nicht, was er davon halten sollte; zweimal hatte sein Namensvetter schon in die Runde geröhrt, und beim dritten Mal brüllte er direkt den ihm gegenüberstehenden Philosophen an, so laut und unvermittelt, dass der nicht nur zusammenzuckte, sondern auch zu zittern anfing, als setze ihm auf einmal fremdländische Kälte zu.
Als Heraklit sich wieder beruhigt hatte, dachte er nur: Dieser Mann ist zweifellos besonders dämlich, aber er hat auch, und das ist gewiss, etwas ganz Unschätzbares für sich.
HOLZWEGE
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Kommentare
erstellt am 29.7.2014
aktualisiert am 04.8.2014

Otto A. Böhmers Reihe Holzwege berichtet von den mal erhabenen, mal erheiternden Bemühungen der Philosophen, im Geschäftsbetrieb des Alltags Haltung zu bewahren und der eigenen Rede Sinn nicht zu vergessen. Die kleinen Begebenheiten im Leben großer Philosophen, die der Autor zu sich bittet, erzielen fast immer angemessene Wirkung: Sie passen so trefflich ins Bild der jeweiligen Philosophie, dass man vermuten muss, sie könnten erdacht worden sein, um den dazugehörigen Philosophen bei merk- und denkwürdiger Laune zu halten.
