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Nikolaus von Kues, Fürst und Kardinal, war ein starker Selbstdenker. Von Haus aus Jurist, aber überaus wissbegierig, verfasste er die philosophischen Grundlagen des Humanismus und der Renaissance. Otto A. Böhmer aber sah ihn auch scheitern.

Holzwege

Der Herr im Schlaf

Der Philosoph Nikolaus von Kues

Von Otto A. Böhmer

Der Philosoph Nikolaus von Kues war in das altfränkische Kloster Hohenfrohnlach gekommen, das, weiß Gott, in keinem guten Ansehen stand. Noch vor wenigen Jahren hatten die Kirchenoberen, zu denen Nicolaus Cusanus, so die etwas vornehmere lateinische Fassung seines Namens, ja mittlerweile auch gehörte, voller Stolz auf das in einem anmutigen Waldstück gelegene Kloster blicken können: Hohenfrohnlach galt als ein Hort der Frömmigkeit; die dort lebenden Mönche waren, wie man hörte, ausschließlich gottergeben, gehorsam und den christlichen Freuden, die der unermüdlichen Ausmalung bedurften, zugetan. Dann aber, welch unerklärlicher Vorgang, hatten sich die Zeiten und mit ihnen die Sitten geändert; eine frivole Lockerheit kam auf, die auch vor den Klöstern nicht haltmachte. Vergnügungssucht breitete sich aus; man verschmähte den himmlischen Ernst zugunsten eines ganzjährig wütenden und fast karnevalistische Züge annehmenden irdischen Frohsinns. Hohenfrohnlach hatte sich dieser Entwicklung kampflos ergeben; sein Niedergang wurde durch die Amtsübergabe des alten Abtes Longinus an seinen Nachfolger Eppler (Eplinius) verdeutlicht: Longinus, ein ebenso hagerer wie gelehrter Mann, musste dem unglaublich korpulenten Eplinius weichen, der vor seinem Eintritt in das Kloster ein gefürchteter Trunkenbold gewesen war und sich nicht schämte, auch als Abt noch auf seine frühere Maxime hinzuweisen, welche da lautete: „Meum est propositum in taberna mori!“ (mir ist es vorherbestimmt, in der Schenke zu sterben.) Nikolaus von Kues war entschlossen, mit dem Lotterleben in Hohenfrohnlach aufzuräumen. In der Weite des Meeres habe ich Gott gesehen, dachte Nikolaus von Kues, als seine Kutsche in den Hof von Kloster Hohenfrohnlach einfuhr. Gott wohnt in mir; da wird es mir doch wohl ein leichtes sein, mit einer Bande übergewichtiger Mönchlein fertig zu werden. Er stieg aus; kein Mensch war zu sehen. Das Kloster wirkte wie ausgestorben. Der Philosoph ging auf das Hauptgebäude zu. Als er das schwere schmiedeeiserne Eingangsportal öffnen wollte, spürte er auf einmal eine Hand auf seiner Schulter. Er zuckte zusammen. Hinter ihm stand Eplinius, der Abt von Hohenfrohnlach. „Ihr kommt zu einer sehr ungünstigen Stunde“, flüsterte er. „Was soll das heißen?“ fragte Nikolaus von Kues. „Mein Kommen wurde Euch beizeiten angekündigt.“ „Darum geht es nicht“, wisperte der Abt. „Es ist später Mittag, wie Ihr seht. Wir haben vor kurzem recht gut gegessen, und nun mussten meine Brüder sich zu ihrem wohlverdienten Mittagsschlaf zurückziehen. Wie gesagt: Ihr kommt zu einer sehr ungünstigen Stunde.“ „Das ist ja unglaublich“, rief der Philosoph. „Sie schlafen am helllichten Tag …“ „Wir führen ein gottgefälliges Dasein“, sagte Eplinius. „Und bitte, mäßigt Eure Stimme. Meine Brüder könnten aufwachen, wenn Ihr so herumbrüllt …“ „Das sollen sie auch“, sagte der Philosoph Nikolaus von Kues, der merkte, wie ihm die Zornesröte ins Gesicht stieg. „In einer halben Stunde will ich sie alle versammelt sehen, alle Mönche von Hohenfrohnlach. Ich habe ihnen etwas mitzuteilen.“ „Ihr meint, ich soll meine Brüder wecken?“ fragte Eplinius und starrte ihn ungläubig an. „Ich soll sie aus ihrem seligen Schlummer aufschrecken? So grausam wollt Ihr sein … Bedenkt doch: Impossibilium nulla obligatio est, wie der Latei­ner sagt: Zu Unmöglichem gibt es keine Verpflichtung.“ „Und ob es die gibt“, erwiderte Nikolaus von Kues. „Ihr tut, was ich sage. In einer halben Stunde will ich Eure Brüder vor mir sitzen sehen, hellwach und begierig, das Wort Gottes zu vernehmen.“

Der Philosoph ließ den Abt stehen und ging an den Gebäuden vorbei in den Klostergarten. Man sollte sie aushungern, diese Mönche, dachte er. Eine Bande von Faulpelzen. Aber vielleicht komme ich ihnen mit lodernder Strenge nicht bei, sondern eher mit Milde und jener Großherzigkeit, die uns Gott selber lehrt. Nikolaus von Kues spürte die Wärme der Luft; er sah einen blitzblanken Himmel über sich, und ihn befiel eine leichte Rührung, die seiner eigenen Person und ihrem Bemühen galt. Ja, sagte er sich, ich will ihnen meine tiefe Zuneigung entgegenbringen; ich werde sie bei der Ehre ihres Glaubens nehmen, den ungünstige Umstände beeinträchtigt haben. Aus ihrem dogmatischen Schlummer will ich sie reißen, und dies im wahrsten Sinne des Wortes. Er ging zurück und fand zu seiner Freude und Verblüffung tatsächlich alle Mönche von Hohenfrohnlach im Refektorium versammelt. Die meisten von ihnen sahen recht verschlafen aus, was dem Philosophen aber, der bester Stimmung war, nicht weiter auffiel. „Geliebte Brüder!“ rief er. „Euch, die, wie ich weiß, der Eifer für Gott beseelt, halte ich für würdig, den kostbaren Schatz der mystischen Theologie zu eröffnen. Ihr sollt das Licht wahrnehmen, das alles ist und alles hat … Lasst mich mit einem Bilde beginnen. Vielleicht kennt ihr ein Bild des Allsehenden, das von geschickter Künstlerhand so gemalt ist, dass es nach allen Seiten zu sehen scheint. Es gibt treffliche Bilder dieser Art auf dem Markt zu Nürnberg oder zu Koblenz in meiner Kapelle zur Heiligen Veronika oder in der Engelsburg zu Brixen. Das Eigenartige an diesen Bildern ist: Wo ihr auch steht, meine Brüder, jeder wird meinen, dass der Allsehende auf alle und jeden zugleich hinschaut. Es ist so: Wir haben die Beweglichkeit des unbeweglichen Blickes vor uns; ein von Menschenhand geschaffener Abglanz des Blickes Gottes, der für das kleinste Geschöpf die gleiche Sorge trägt wie für das ganze und größte Universum.“ – Nikolaus von Kues hielt inne; ein nahezu gleichmäßiges Schnarchen erfüllte das Refektorium: Die Mönche waren eingeschlafen. Mühsam erhob sich Eplinius, der Abt, und ging auf den völlig verdatterten Philosophen zu. „Seht Ihr“, flüsterte er, „ich hatte versucht, Euch zu warnen. Seid gnädig mit uns: ‚Volenti non fit iniuria!‘ heißt es im altehrwürdigen römischen Recht – dem, der es so haben will, geschieht kein Unrecht.“

HOLZWEGE

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erstellt am 12.8.2014
aktualisiert am 19.8.2014

Otto A. Böhmers Reihe Holzwege berichtet von den mal erhabenen, mal erheiternden Bemühungen der Philosophen, im Geschäftsbetrieb des Alltags Haltung zu bewahren und der eigenen Rede Sinn nicht zu vergessen. Die kleinen Begebenheiten im Leben großer Philosophen, die der Autor zu sich bittet, erzielen fast immer angemessene Wirkung: Sie passen so trefflich ins Bild der jeweiligen Philosophie, dass man vermuten muss, sie könnten erdacht worden sein, um den dazugehörigen Philosophen bei merk- und denkwürdiger Laune zu halten.

Nikolaus von Kues
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