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Allmählich hat sich während der gegenwärtigen Pandemie das Bewusstsein ausgebreitet, dass wir uns in einer außergewöhnlichen Situation befinden. Viele Menschen haben in dieser Situation angefangen, Tagebuch zu schreiben, das Besondere aufzuzeichnen, selbst wenn es darin besteht, das Allgemeine im Besonderen schriftlich festzuhalten. Die Herausgeber des Literaturmagazins WORTSCHAU baten sechs Autorinnen und Autoren, zu einem vereinbarten Zeitpunkt Notizen zu machen. Diese Beiträge wurden unter dem Titel »Seitenwechsel« in der Zeitschrift veröffentlicht und erscheinen in loser Folge in Faust Kultur. Den Anfang macht Johanna Hansen.

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Silvester 2020 – Johanna Hansen

Die Pandemie hat mich fokussiert auf ein Herzensprojekt. Arbeitstitel: Vom Anfangen und Aufhören. Wenn ich die Vorsilben tausche wird daraus: Vom Auffangen und Anhören. Die Erinnerung anhören, damit die Zukunft mich auffängt. Ohne Feuerwerk. Das fällt dieses Mal aus. Wie so vieles. Das Jahr steht an seinem Ende stiller still.

Ich sitze am Schreibtisch bei der Korrektur einzelner Passagen des Manuskripts. Lampenlicht fällt auf ein paar Textabschnitte. Es geht ums Anfangen. Warten. Luftholen. Wie so oft bei mir. Ich möchte immer ein Anfang sein, nie ein Ende, denke ich, gerade jetzt nicht, wo ich, zur „Hochrisikogruppe“ gehörend, durch Abstands- und andere Regelungen vollständig zurückgeworfen bin auf mich selbst. Den Rest des Abends widme ich dem Thema.

Die Rückwand der Wörter

Ich bin eine Anfängerin. Mit Anfängen kenne ich mich aus.

Einatmen zum Beispiel fällt mir leicht. Aber früher verhedderte ich mich häufig im Atem. Hielt die Luft lange an, so, als müsse sie reichen, um abzutauchen. Unterzutauchen. Zu verschwinden.

Fürs Wiederauftauchen gab es den seidenen Faden, an dem alles hängt. Er hing oft wie eine Schlinge um meinen Hals. Manchmal locker. Manchmal eng. Eng, wenn mir die Bewegungsfreiheit fehlte. Entscheidungsfreiheit. Weite. Die Pause zwischen zwei Atemzügen. Meistens zu kurz. Das führte in meiner Kindheit und Jugend zu dem Gefühl erstickender Einengung. Ausatmen fiel mir dann besonders schwer.

Bevor ich lernte auszuatmen, musste ich erst einmal warten lernen. Von den Frauen, die mich erzogen haben, lernte ich, wie Warten sich anfühlt. Wie es sich ausdrückt in sich wiederholenden Gesten. Ich sah, wie die Mutter meiner Mutter mit der Hand über die Tischplatte strich, als wollte sie imaginäre Krümel wegfegen. Dabei seufzte sie tief. Mit der Hand den Hals zu berühren, nach der Perlenkette zu tasten, die es nur als Wunschtraum gab, lernte ich von einer Tante. Mit abwesendem Blick in einem Topf voller Suppe zu rühren, weil der Vater wieder nicht pünktlich nach Hause kommt, lernte ich von meiner Mutter. Auf die Schlafzimmertür zu starren, weil sie sich nicht öffnet, wenn ich krank im Bett liege und weil es heißt, ich bräuchte Ruhe, und Ruhe bedeutet so viel wie Einsamkeit, lernte ich auswendig. Das Alleinsein hat so viele Strophen wie die Lieder, Sprichwörter und Gedichte, die ich mir in meiner Kindheit und Jugend aufsagte, um Trost und Gesellschaft zu haben.

Warten ist ein Zustand, in dem ich mir leicht abhandenkam. Hände und Füße ganz kalt. Im Warten habe ich mich viele Male verloren. Bis ich mich schließlich darin fand. Aber das war sehr viel später. Da wusste ich schon, dass Warten und Stille verwandt sind. Warten war zunächst dasselbe, wie auf der Stelle zu treten und gleichzeitig eine ausradierte Landschaft zu durchqueren: meinen Anfang. Warten war warten auf etwas, das sich ereignen sollte: ein Leben, das zu mir passte.

Familie, Schule und Kirche hatten mir ihre Vorstellungen des Lebens beigebracht. Ich spielte mit. Hatte keine andere Wahl. Oft hieß es: Die Kleine hat es auf der Lunge. Ich dachte: „es“, das ist ein Felsbrocken. Zur schwer für mich. Dass „es“ auch der Schatten war, den die Toten der Familie und die des Krieges auf mich warfen, würde ich erst Jahrzehnte später begreifen. Und auch, was es bedeutete, als Frühgeburt mit einer unreifen Lunge geboren worden zu sein.

Gegen alles, was mich einschränkte, revoltierte ich. Reizbar, wie ein eingesperrter Löwe. Atemlosigkeit und Unsichtbarkeit waren Ausdruck meiner Rebellion und meiner Ohnmacht. Ich zog mich darin zurück wie in ein Gebüsch. Kam mir vor wie eine Fremde, die versehentlich auf dem falschen Planeten gelandet war, den Weg nach Hause nicht fand und sich deshalb entzog, statt sich ständig Spott, Unverständnis und Ablehnung auszusetzen. Weshalb ich solche Reaktionen hervorrief, wusste ich nicht. Instinktiv wusste ich aber, dass es besser war, eine Tarnkappe zu tragen. In meine zahlreichen Verstecke begleiteten mich imaginierte Freunde. Ein Fisch, ein weißer Rabe und andere Tiere. Sie waren mein Gegenüber. Wachten über mich. Waren das andere in mir, das, was mich anschaute, mich nie verriet oder verließ, wenn ich auch sonst verlassen war. Wenn der Wal durch mich schwamm, gingen wir zusammen an Land. Mit den Augen des Adlers, den Füßen eines Fisches, mit dem Gesang der Auster, mit allem, was sich handzahm um mich legte, wusch ich abends mein Gesicht, um morgens neu anzufangen.

Jedes Mal, wenn ich anfange, tun sich Erinnerungslücken auf. Wie Rhizome in einem Resonanzraum des Schweigens. Er füllt den ganzen Körper aus. Gleichzeitig ist eine starke Anspannung fühlbar. Ein Vibrato, das mich nie loslässt. Sich aufdrängt wie ein ungebetener Gast, der sich bei mir einquartiert. Dessen Sprache ich unbedingt verstehen will. An guten Tagen wird aus dem Schweigen Stille. Sie wird das Sprachrohr, durch das das Kind sich artikulierte, das am liebsten Wörter sortierte. Töne. Geräusche, Farbklänge. Das mit Eigenschaften ausgestattet ist, die nicht verstanden werden und die es selbst nicht versteht.

Jeder Beginn wirft mich zurück in das Vakuum des allerersten Anfangs.
Er begleitet mich wie die verzweifelte Suche nach einem verlegten Hausschlüssel oder das Echo eines Gefühlszustandes, der mich festhält. Ein elastisches Gummiband, das mich immer wieder zurückschnellen lässt. Als müsse ich Löschpapier auf den Anfang drücken, um die leere Fläche aufzusaugen, über die ich laufen musste, lange bevor meine Füße mich trugen.

Jedes Blatt Papier, jede weiße Leinwand, jedes erste Wort eines Gedichts ist ein Anfang. Ich liebe Papier in allen Farben und Formaten.

Weil ich weiß, wie es sich anfühlt, ins Leere zu gehen, setze ich meine Füße gerne auf eine gedachte Linie. Sie schreibt und zeichnet sich selbst. Da ist immer das Papier. Sind immer die Leinwand, die Wörter und die Farben. Sobald ich schreibe und male, ist das Papier der Ort, wo manchmal etwas entsteht, das einen Augenblick lang als Erinnerung aufblitzt und sich zur Zukunft entwirft.

Künstlerische Arbeit erlaubt mir, auf meine Art zu sprechen. Manchmal kommt die Schwelle zum Vorschein, auf der Innen und Außen verschmelzen. Manchmal wird die Grenze dazwischen schmerzhaft sichtbar. Die Figuren der Wahrnehmung drehen sich um ihre eigene Achse und zeigen verschiedene Ansichten. Seitdem ich mich fürs Schreiben und Malen entschieden habe, fällt sie scheinbar aus dem Nichts aufs Papier wie ein Atemzug ins Schreiben. Wie eine Farbe ins Bild. Wie ein Wort ins Gedicht.

Gehen und Schreiben gehörten in der Kindheit schon eng zusammen für mich.
Worte und Farben sind Haltepunkte für meine Hände. Luftschiffe.
Sie lassen sich tragen vom Atem. Sie tragen mich. So entsteht Leichtigkeit. So entstand mein allererstes Gedicht. Ein Anfang war gemacht.

Ich
In die Zunge getaucht
Ich brauche die Zunge nackt
in den Fängen der Rede
Beim Aufbruch am liebsten
spann ich Zelte auf zwischen den Sätzen
und die Hand vor dem Mund
fühlt die Rückwand der Wörter

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Kommentare


Birgit Kölgen - ( 23-03-2021 08:37:41 )
Als Kulturjournalistin freue ich mich über ein Portal, das geistige Höhenflüge und tiefe Betrachtungen jenseits des Nützlichen zulässt. Ich hoffe allerdings auch auf Heiterkeit.

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erstellt am 19.3.2021
aktualisiert am 05.4.2021

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Tagebuchnotizen, die zeitgleich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Ländern entstanden und in der Zeitschrift WORTSCHAU veröffentlicht wurden. An einem bestimmten (vorgegebenen) Tag machten sich 6 Autorinnen und Autoren Notizen darüber, wo sie sich an diesem Tag aufhielten, woran sie arbeiteten und was sie erlebten.

Johanna Jansen
Über die Autorin

Johanna Jansen ist Autorin, Malerin und Herausgeberin der Literaturzeitschrift WORTSCHAU.
Zunächst Lehrerin und Journalistin. Seit 1993 zahlreiche Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen. Seit 2008 Veröffentlichungen vor allem von Lyrik als Einzelpublikation, in Anthologien, Literaturzeitschriften und auf Literaturplattformen. Zuletzt: „zugluft der stille“, edition offenes feld, hg. von Jürgen Brôcan, 2020, 2016/18 Stipendium Schriftstellerhaus Ventspils, Lettland. 2014/16/18 Aufenthalte in der Cité Internationale des Arts, Paris. 2019 Postpoetry Lyrikpreis NRW.
In Zusammenarbeit mit Musikern entstanden Performances, Buch-/CD-Projekte und Poesie-Filme. Gedichte wurden ins Englische, Lettische, Französische, Spanische und in Hindi übersetzt.