In der zweiten Folge seiner Reihe Holzwege berichtet Otto A. Böhmer vom Philosophen Blaise Pascal, der sich als Altenpfleger in Geduld zu üben versucht, bis ihn der Zorn über seinen Pflegling über eine Grenze treibt.
holzwege
Die Grenzen der Geduld
Der Philosoph Blaise Pascal (1623-1662)
Von Otto A. Böhmer
Der Philosoph Blaise Pascal hatte sich seit mehr als einem Jahr der Nächstenliebe gewidmet, ohne sonderliche Genugtuung dabei zu empfinden. Pascal konzentrierte sich besonders auf die Altenpflege; sein hartnäckigster Fall war der alte Fignon, ein Greis von fast achtzig Jahren, der seit Menschengedenken darniederlag und noch immer nicht sterben konnte. Fignon lebte auf heimtückische Weise: Seine nichtendenwollende Krankheit hatte er zu einem Kommandostand ausgebaut, von dem er Pascal die Dienstanweisungen eines Todeskandidaten zukrächzte, dem man anscheinend ewigen Aufschub gewährt hatte. Im Laufe der Zeit waren die regelmäßigen Besuche bei dem Greis für ihn zu einer Tortur geworden, und er musste sich mehr als einmal mit sanfter innerer Stimme ermahnen, ruhig zu bleiben und Freundlichkeit zu zeigen, wenn es der Alte gewohnt toll mit ihm trieb.
Als er an diesem Tag die Krankenstube betrat, lag Fignon wie immer stocksteif auf seinem Bett und starrte ihm triefäugig entgegen. „Guten Morgen“, rief der Philosoph, „hast du gut geschlafen?“ „Ja, mach dich nur lustig!“ schnarrte Fignon. „Eine gute Nacht? Seit dreiundzwanzig Jahren hab’ ich keine gute Nacht mehr gehabt.“ „Du übertreibst, mein Bester“, sagte Pascal. „Dass Gott dir ein so langes Leben vergönnt, hat auch mit deinem vorzüglichen Schlaf zu tun. Du bist alt und, zugegeben, ein wenig krank, aber du schläfst noch immer wie ein Beuteltier . . .“ Er setzte sich zu Fignon ans Bett. „Zieh die Vorhänge zur Seite“, krächzte der Greis, „ich will noch einmal das Licht sehen. Wer weiß, wie lange mir das noch gestattet sein mag …“ Seufzend erhob sich der Philosoph und tat, wie ihm geheißen. „Es ist zu hell“, rief Fignon, „die Sonne sticht mir in die Augen. Zieh die Vorhänge wieder zu, aber nicht ganz: In der Mitte möchte ich die Helligkeit haben, in einem langen Streifen. So sieht sie aus wie der Türspalt zur Welt, die ich nie mehr betreten werde.“ „Noch bist du auf dieser Welt“, sagte Pascal, und leise fügte er hinzu: „Leider …“ Er erschrak über sich selbst. Verzeih mir, mein Gott, dachte er, es soll nicht wieder vorkommen. Er lächelte Fignon zu. „Was grinst du so blöde?“ fragte der Alte. „Mein Guter“, sagte Pascal, „was ich an dir bewundere, ist dein sonniges Gemüt. Das muss dich doch schon als kleines Kind ausgezeichnet haben, oder?“ „Meine Eltern waren streng“, sagte Fignon, „ich hatte nichts zu lachen.“ „Das meine ich“, sagte der Philosoph. „Soll ich dir etwas vorlesen?“ „Wenn es sein muss“, ächzte Fignon. „Aber es darf nur aus einem guten Buch sein: Ich verabscheue die moderne wachsweiche Literatur!“ „Ich habe ein solches Buch zufällig immer bei mir“, sagte Pascal und griff in seine Jacke. „Es ist, meiner unmaßgeblichen Meinung nach, das Beste, was in letzter Zeit geschrieben wurde – ein philosophisches Werk von hohen Graden, das …“ „Fang schon an“, seufzte Fignon. „Ein philosophisches Werk – mir bleibt auch nichts erspart.“ „Der Mensch“, begann Pascal, „ist ein Nichts im Hinblick auf das Unendliche, ein Alles im Hinblick auf das Nichts. Er scheint jedoch gleichermaßen unfähig, das Nichts zu sehen, aus dem er gezogen, wie das All, in das er verschlungen ist. – So bleibt der Mensch für sich selbst der wunderlichste Gegenstand der Natur …“ – „Wasser“, ächzte Fignon, „gib mir Wasser.“ Der Philosoph stand auf und begab sich in den rückwärtigen Teil der Stube, wo auf einer Anrichte eine große Karaffe stand, aus der er dem Alten ein Glas Wasser einschenkte und kredenzte. „Kann ich jetzt weiterlesen?“ fragte Pascal. „Die Strafen im Himmel können nicht härter sein als die Qualen auf Erden“, sagte Fignon. „Lies ruhig; dir scheint es ja immerhin Spaß zu machen …“ „Das also ist unser wahrer Stand im Dasein“, fuhr der Philosoph fort, „wir treiben dahin auf einer unmessbaren Mitte, immer ungewiss und schwankend, von einem Ende zum andern gestoßen. An welcher Grenze wir auch immer gedachten, uns anzuheften und Halt zu gewinnen, sie wankt und lässt uns fahren – und wenn wir ihr folgen, entwindet sie sich unserem Zugriff, entgleitet uns und flieht in einer ewigen Flucht! – Der Mensch ist ein denkendes Schilfrohr; seine ganze Würde liegt im Denken. Wenn das All ihn zermalmte, wäre der Mensch doch noch erhabener als das, was ihn tötet, weil er weiß, daß er stirbt, und welche Überlegenheit das All über ihn hat; das All weiß davon nichts … Alles Unglück in der Welt aber kommt letztlich daher, dass man nicht versteht, ruhig in einem Zimmer zu sein. Unablässig trachtet der Mensch, Ablenkung zu finden, sich selbst zu vergessen. – So befällt ihn, unausweichlich, die Düsternis, Traurigkeit, der Kummer, der Verdruss, die Verzweiflung. Sein Nichts fühlt er, seine Verlassenheit, Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht und Leere …“ ,,Aufhören!“ brüllte Fignon. „Aufhören. Bring mir Wein. Dieses Gestammel ist nur mit Wein zu ertragen. Gib zu, dass es von dir ist. Du selbst hast diesen Wahnwitz in ein Buch gepresst …“ „Ja“, sagte Pascal, der spürte, wie ihm die Zornesröte zu Gesicht stieg. „Es sind meine eigenen Gedanken …“ „Du bist nicht nur ein miserabler Krankenpfleger“, höhnte der Alte, „sondern auch ein hundserbärmlicher Schriftsteller, das walte Gott. Hole mir Wein, hab’ ich gesagt, ich will auf dein fortwährendes Schweigen anstoßen.“ Der Philosoph sprang auf, rannte zur Anrichte und kehrte mit der Karaffe zurück, die er mit Schwung über dem Kopf des verdutzten Fignon entleerte. „Da“, brüllte Pascal, „da hast du deinen Wein. Du elendig-gichtiger Wicht! Groß wird unser Entzücken sein, wenn du endlich zur Hölle fährst!“ „Mein guter Freund!“ rief der Greis und schüttelte sich. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin. Endlich habe ich dich einmal zornig gesehen. Du warst mir unheimlich in deiner überirdischen Geduld. Jetzt aber weiß ich, dass du ein Mensch bist wie wir alle. Darauf wollen wir trinken – und dann mag ich getrost zur Hölle fahren, in der wir uns dereinst wiedersehen …“
Holzwege
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Kommentare
erstellt am 22.7.2014
aktualisiert am 04.8.2014

Otto A. Böhmers Reihe Holzwege berichtet von den mal erhabenen, mal erheiternden Bemühungen der Philosophen, im Geschäftsbetrieb des Alltags Haltung zu bewahren und der eigenen Rede Sinn nicht zu vergessen. Die kleinen Begebenheiten im Leben großer Philosophen, die der Autor zu sich bittet, erzielen fast immer angemessene Wirkung: Sie passen so trefflich ins Bild der jeweiligen Philosophie, dass man vermuten muss, sie könnten erdacht worden sein, um den dazugehörigen Philosophen bei merk- und denkwürdiger Laune zu halten.
